Wenn es eine Truppe gibt, die die Melancholie und Dunkelheit ihrer Heimat Finnland perfekt einfangen kann, dann ist es AMORPHIS. Als eine der ältesten noch aktiven Bands im nordischen Extreme Metal tischen die Herren um Frontmann Tomi Joutsen nur noch Alben auf, die sich gegenseitig toppen und so ist ihre neue Abrissbirne „Under The Red Cloud“ auch unbestritten jetzt schon eins der Metalhighlights von 2015. Leider ist es bei einem Act, der seit 25 Jahren durch die Szene wütet, nicht mehr so leicht, noch Interviewthemen zu finden, die die Herren nicht schon tausendfach durchgekaut haben, doch Ex-Dreadlock-Gigant Tomi entpuppt sich schnell als sehr umgänglicher Gesprächspartner, der nicht nur viel über die Details des neues Albums zu erzählen hat, sondern auch gern über seine angeblich miserablen Schauspielkünste, den Verbleib seiner Dreadlocks, die Arbeit mit Jugendlichen und seine Stromschlagpanik plaudert.
Hi Tomi, schön dich zu erwischen! Mit eurem neuen Album habt ihr „Circle“ ja sogar noch übertroffen, Respekt! Ich hatte gelesen, dass der Titel „Under The Red Cloud“ eine Anspielung darauf sei, dass wir momentan in düsteren, blutigen Zeiten leben – bist du ein Pessimist, was die aktuelle Entwicklung in der Welt angeht oder glaubst du fest an ein Happy End für die Menschheit?
Tomi Joutsen: Ich gestehe, dass ich ein Pessimist bin – darauf bin ich nicht stolz, aber wenn du in eine Zeitung schaust und feststellt, wie viele Menschen sich wie absolute Idioten aufführen, ist es schwer, eine optimistische Einstellung zu behalten. Ich würde liebend gern daran glauben können, dass wir uns noch einmal zusammenreißen und die Welt retten werden, aber vermutlich ist der Punkt schon überschritten. Ich versuche einfach, nicht zu sehr daran zu denken, dass wir unseren Kindern eine schreckliche Zukunft vorbereiten…
Eine klare Mission, um die Welt zu retten, habt ihr mit dem Album also nicht, oder?
(lacht) Nein, weil ich, wie gesagt, keine gute Idee habe und denke, dass es auch nicht mehr viel zu retten gibt. Wir haben uns selbst schon zu viel Kummer zugefügt, als dass es noch einen Ausweg gäbe.
Dieses Album wurde nicht wieder von Peter Tägtgren produziert, sondern ihr habt euch Jens Bogren ins Boot geholt, der scheinbar sehr strikt war, euch die Songs nicht hören ließ, bevor er sie fertig durchgearbeitet hat, und außerdem meinte, dass ihr die stinkendste Band wärt, die in seinem Studio saß – okay, was habt ihr da angestellt?
Haha, ich weiß es nicht! Ich befand mich nur zwei Wochen bei ihm im Studio, um meine Vocals aufzunehmen. Zuerst war ich allein dort und später kam Esa [Holopainen, Gitarrist] noch dazu. Ich empfand es aber eher als langweilig, es fanden keine dicken Partys oder Rock’n’Roll Abende statt, denn wenn du schon so weit anreist, um deine Arbeit zu machen, dann machst du sie auch und lenkst dich nicht unnötig ab. Natürlich hatten wir auch etwas Freizeit, wir gingen morgens ins Studio und arbeiteten dort bis etwa 17 Uhr, sodass wir den Abend frei hatten und es dort schnell mal öde wurde. Das Studio liegt nicht im Zentrum von Örebro, sondern acht Kilometer im Nirgendwo, sodass es dort abends rein gar nichts zu tun gab. Trotzdem hatten wir magische Momente, Stille kann auch sehr inspirierend sein und die Arbeit mit Jens war spannend, er ackert wie wild und würde vermutlich 24 Stunden am Tag im Studio sitzen, wenn er könnte.
Übernachtet ihr also auch direkt in dem Studio oder wie muss man sich das vorstellen?
Ja, richtig. Jens lebt auch direkt daneben. Auch wenn es nett gewesen wäre, abends mal aus der Arbeitsatmosphäre herauszukommen, ist dieses intensive und lokal zentrierte Arbeiten doch sehr wertvoll. Und ich bin froh, dass wir keine Monate dafür brauchten, da wäre ich wahnsinnig geworden.
Wer sind die „Four Wise Ones“ aus eurem zweiten Track?
Pekka, der unsere Liedtexte schreibt, meinte mal, er sieht die Zahl Vier überall. Demnach könnten die „Vier Weisen“ die vier Jahreszeiten, Himmelsrichtungen oder Elemente sein. Für ihn sind es aber scheinbar die vier Elemente, die das Himmelszelt tragen und ich finde diesen Gedanken sehr schön.
Chrigel von Eluveitie habt ihr euch ja ebenfalls für den Song an Bord geholt…
Ja, aber ich muss gestehen, dass ich ihm nie begegnet bin. Keiner der Gastmusiker lief mir tatsächlich über den Weg, viele nahmen ihre Passagen an einem ganz anderen Ort auf, nur von Aleah Stanbridge (Trees Of Eternity) weiß ich, dass er ebenfalls in Jens‘ Studio vorbeikam.
Ihr schwenkt musikalisch auch sehr in die irisch/keltische Schiene auf dem Track, wie kam das zustande?
Es ist fantastisch, echte Leute heranzubekommen, die Flöte spielen können. Es ist viel organischer, menschlicher, auch wenn es heutzutage nicht mehr schwer ist, das Ganze anderweitig nachzuahmen. Aber Jens kam die Idee, dass wir doch Chrigel fragen sollten, weil sie sich bereits kannten und es war eine Ehre für uns, dass er mitmachen wollte. Und es ist nicht nur toll für uns, sondern auch die Fans.
Okay, ganz anderes Thema: Viele Fans waren entsetzt, als sie dich bei der Tour ohne deine legendären Dreads gesehen haben! Also was ist mit denen passiert, nachdem du sie abgeschnitten hast, lagerst du sie unter dem Bett für düstere Zeiten? Strickst du Pullover daraus?
Haha, nein, die kamen in den Müll. Wobei ich die ersten, die ich abschnitt, glaube ich, noch irgendwo herumliegen habe. Ich hatte Angst, wie ich ohne die Dinger aussehen würde, deshalb ging es Stück für Stück, aber die meisten von ihnen wurden schlicht und einfach zerstört. Ich habe auch die Schnauze voll von Dreads mittlerweile. Fünfzehn Jahre sind genug. Anfangs gefiel es mir optisch und ich war begeistert, dass man die Haare kaum pflegen muss, man wäscht sie, aber das war’s auch schon. Aber am Ende waren sie so lang, dass es schon ungemütlich wurde, sie herumzuschleppen, sei es beim Sport oder beim Schlafen im Tourbus. Deshalb genieße ich nun irgendwo die „Freiheit“ mit den kurzen Haaren, allerdings ist es auch sehr seltsam auf der Bühne, ich weiß manchmal nicht, was ich dort oben tun soll, wenn ich meine Haare nicht herumschleudern kann! (lacht)
Ich habe gelesen, dass du vor deiner Zeit in Amorphis in der Jugendhilfe oder einem Jugendzentrum gearbeitet hast, stimmt das?
Ja, das stimmt. Einige Zeit lang machte ich das noch neben der Band, aber als die internationalen Touren anfingen, ließ es sich einfach nicht mehr umsetzen.
Welche Rolle spielte Musik damals in deiner Arbeit mit Jugendlichen? Und bekamst du jemals von Eltern eins auf den Sack, weil du den Kindern Cannibal Corpse näher bringen wolltest?
Nein nein (lacht) Ich arbeitete in meiner Heimatstadt und betrieb dort ein Jugendcafé, wir hatten auch eine Bühne dort, wo die Kinder auftreten konnten und ich coachte die Bands auch gerne mal, wenn sie Hilfe benötigten. Natürlich kamen allerhand verschiedene Kinder dort hin, Skater, Rocker, aber es gab auch immer Metalnachwuchs und es war natürlich toll, die neue Generation der Szene dort zu treffen. Die Arbeit war großartig und ich habe es sehr genossen, aber leider fehlt mir mittlerweile die Zeit – mal sehen, vielleicht ändert sich das irgendwann wieder.
Metal ist in Finnland ja eine ganz andere Institution als in anderen Ländern, bei euch hat es ja fast denselben Stellenwert wie Popmusik, wenn man finnisches Radio hört. Stört dich diese Tatsache und wünschst du dir manchmal den Undergroundstatus zurück oder gefällt es dir, dass ihr dort so viele Menschen auf einmal ansprecht?
Manchmal verwirrt mich das. Als ich etwa 17 war und begann, extreme Musik zu hören mit Bands wie Deicide, Grave oder Sepultura, war es Rebellenmusik, Untergrund. Heute ist das nicht mehr der Fall. Heute gibt es sehr engstirnige und seltsame Leute in der Metalszene, sodass ich mich ihr nicht immer zugehörig fühle. Ich bin zwar aus musikalischer Sicht kein Punkrocker, aber identifiziere mich mehr mit diesem Spirit, als mit dem, der in der Metalszene vorherrscht. Im Metal kommen immer wieder so hirnrissige Dinge wie Nationalismus und Intoleranz durch, dabei sollte es Rebellenmusik sein, von weltoffenen, lebensfrohen Leuten.
Was ist deiner Ansicht nach die beste Möglichkeit, sich auf einer langen Tour nicht gegenseitig auf den Sack zu gehen?
Puh… wir machen das ja schon seit sehr vielen Jahren. Das Wichtigste ist, deinen eigenen ruhigen Platz zu finden, sei es in einer Ecke des Backstagebereichs oder in deiner Koje im Bus. Alleinsein wird manchmal sehr nötig und wir respektieren es auch immer, wenn jemand sich mal für ein paar Stunden abkapseln möchte. Jeder hat mal schlechte Tage und möchte niemanden sehen und in solchen Momenten den Kollegen ihren Freiraum zu lassen, ist enorm wichtig. Die Buskoje ist deshalb eine Art Schutzbunker geworden – wenn dort einer liegt, ist es für die anderen eine Tabuzone. Ansonsten sind wir eine sehr friedfertige Band, wir schlagen uns nicht die Köpfe ein, wenn wir auf Tour sind, sondern versuchen auch alle Probleme demokratisch zu lösen. Keiner lebt einen Egotrip aus und wenn es zu Missverständnissen kommt, diskutieren wir sie sofort aus und fressen nichts in uns hinein. Und selbst wenn einige in der Band sich mal die Kante geben, wird trotzdem keiner aggressiv, sondern nur lustiger. Das ist normalerweise so ein finnisches Ding, dass du depressiv wirst, sobald du dir die Rübe zuschüttest, aber das ist bei uns glücklicherweise nicht der Fall.
Auf eurer letzten Tour habt ihr es geschafft, erstmals in China und Australien zu spielen, was sicher genial war. Bekommt ihr trotzdem manchmal Schwierigkeiten mit Veranstaltern, Grenzübergängen oder ähnlichem, in Ländern, die keine so große Metalszene haben wie Westeuropa?
In der Ukraine hatten wir mal einen schwierigen Moment. Wir spielten auf einem Outdoorfestival und es regnete in Strömen, sodass wir mindestens eine fünf Zentimeter hohe Wasserschicht auf der Bühne hatten und das ist natürlich sehr gefährlich. Unser Soundtechniker riet uns, die Show abzublasen wegen der großen Gefahr von Stromschlägen, aber vor uns spielten Anathema und die sind auch nicht gestorben, also beschlossen wir, es einfach durchzuziehen. „Wenn Anathema das können, können wir das auch!“ (lacht) Glücklicherweise kam keiner zu Schaden, aber gruselig war es schon. Und in Russland musste ein Promoter uns mal freikaufen, weil die Polizei fälschlicherweise behauptete, dass unsere Papiere nicht in Ordnung waren und sie uns nicht ins Land lassen wollten. Mit etwas Bestechungsgeld ging das aber scheinbar… Im Nachhinein ist es immer lustig davon zu erzählen, aber in den Momenten selbst geht einem ganz schön die Muffe!
Das kann ich mir vorstellen! Du betonst ja immer wieder, wie sehr du es hasst, Musikvideos zu drehen – aber für euer neues Album habt ihr trotzdem wieder welche anstehen, schätze ich?
Ja, ich glaube jeder Musiker hasst so etwas, denn wir sind ja keine Schauspieler! Und sobald einer in der Band anfängt, sich hineinzusteigern und die Szene richtig ernstzunehmen, steht der Rest um ihn herum und lacht sich tot. Nächsten Monat shooten wir einen Clip zu „Sacrifice“ [Anm. der Red.: Mittlerweile ist der Clip erschienen, siehe unten] und ich bin schon gespannt, wie das wieder wird, aber ich weiß noch nicht genau, wo der Dreh stattfindet. Der Regisseur ist Finne und ich liebe seine Videos, deshalb hoffe ich, dass die Sache gut wird – und nicht allzu peinlich für mich und meine Schauspielkunst…
Hast du als Schulkind jemals in einem Theaterstück mitspielen müssen oder ähnliches?
Naja, ist musste ein paar Mal bei Schulaufführungen vorsingen… Als ich 14 war spielte ich dann ein paar Shows in meiner Heimatstadt mit einer Band und merkte damals schon, wie sehr ich es liebe, auf der Bühne zu stehen. Ich bin bis heute immer noch nervös vor Auftritten, aber wenn ich dann dort oben vor dem Publikum stehe, gibt es mir so massive Energieschübe, dass es unvergleichlich ist. Man fühlt sich lebendig! Aber nur solange ich nicht schauspielern muss, haha!
Das lass ich mal als famous last words so stehen, danke Tomi!
Gern, hat Spaß gemacht! Im Winter sind wir dann auch wieder mit Nightwish und Arch Enemy auf den deutschen Bühnen und das wird eine riesige Herausforderung für uns. Ich schätze, die meisten Leute werden wegen Nightwish kommen, aber das gibt uns natürlich die Chance neue Fans zu finden. Und nächstes Jahr wird es dann vermutlich noch eine Headline-Europatour von uns geben, wenn alles gut läuft, aber Genaueres weiß ich dazu noch nicht.
Du schläfst auch nie, oder?
Ich? Niemals! (lacht)
Interview: Anne Catherine Swallow
Titelfoto: Ville Juurikkala