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Seit August war dieses kleine Mailinterview im Nimbus des Internets gefangen, im ständigen Kampf gegen volle Terminkalender wollte und wollte es einfach nicht so recht klappen, doch manche Dinge brauchen eben seine Zeit – ebenso wie die Solo-EP „The Dark Night Of The Soul“, des TRIBULATION-Gitarristen Jonathan Hultén, der hauptberuflich mit der Death Metal- und Vintage Rock-Chimäre eigentlich ganz andere Pfade bestreitet, doch seit vielen Jahren eine kleine Sammlung an Akustiksongs unter seinem Bett heranzüchtete. Im Spätsommer war es soweit und die im Alleingang geschriebenen, aufgenommenen und performten Songs sahen in Form einer Debüt-EP das Tageslicht. Kurios, verträumt und voller bizarrer Magie führte Jonathan durch vier Tracks und bespielte im Vorprogramm von Crippled Black Phoenix im Herbst auch einige deutsche Hallen, während er aktuell schon wieder mit seiner Hauptband durch Europa schreddert. Doch ähnlich wie das Internet vergisst auch der chronisch mit neuen alternativen Ideen gefüllte Kopf von Jonathan nichts – und fünf Monate später und dank eines glücklichen WiFi-Spots an einem Day Off klappte es dann doch noch, plötzlich waren die Antworten da. Und wie immer, wenn man mit dem 28-jährigen Schweden plaudert, war es jede Minute Wartezeit wert…
Sound Infection: Wann bekamst du erstmals das Bedürfnis, beide musikalischen Seiten in dir auszuleben, sowohl die sanfte als auch die aggressive? Für die meisten Musiker wäre es unmöglich, sowohl im Extreme Metal als auch im akustischen Singer/Songwriter-Bereich aktiv zu sein, doch bei dir verweben sich beide Seiten völlig authentisch? (Selbst Nergal musste für sein Country Projekt einiges an Kritik einstecken…)
Jonathan Hultén (Photo: Sylvia Desol)Jonathan Hultén: Als Kind fühlte ich mich immer zu der dramatischeren und düsteren Seite der Musik hingezogen, aber nur ein paar Jahre später schnappte ich mir eine akustische Gitarre und bekam plötzlich das Bedürfnis, mich auch durch Gesang auszudrücken. Während meiner Jugend, hatte ich viele Freunde mit sehr verschiedenen Musikgeschmäckern, demnach war es für mich eine natürliche Sache, sowohl Morbid Angel zu hören als auch José Gonzales oder Looptroop. Ich performte sogar bereits einige Male als Singer-Songwriter, als ich ungefähr siebzehn Jahre alt war, aber als ich von meiner Heimatstadt wegzog, ließ ich davon ab und war plötzlich überzeugt, dass ich all meine Energie NUR noch dem Metal widmen müsste. Letztendlich merkte ich jedoch, dass ich mich nicht davon abhalten lassen wollte, akustisches Material zu schreiben und nach ein paar Jahren war der Drang, wieder zu singen, zu groß geworden. Ich entschied, dass ich dem entweder nachkommen oder irgendwann unglücklich sterben müsste. Also absolut… da es immer ein Teil von mir zu sein schien, war es nur natürlich, endlich die Songgedanken aufzunehmen, die ich so lange im Inneren mit mir herumgetragen hatte.
Deine Musikvideos sind kleine Kunstwerke in sich und ‚Nightly Sun‘ ist stilistisch sehr ähnlich zu vielen deiner Gemälden oder anderen Artworks. Wie schwierig war es für dich, deinen speziellen Stil in bewegte Bilder zu übertragen? Und bezüglich ‚Anguished Are The Young‘: Warum hast du dich für Venedig als Videosetting entschieden?
Es erwies sich als nicht gerade einfach, die Bilder, die ich in meinem Kopf hatte, zu einem echten Video werden zu lassen. Ich besaß keinerlei Vorkenntnisse was Special Effects und Filmschnitt anging, deshalb musste ich mich erst langsam in Final Cut hineinfuchsen. Aber ich habe einfach improvisiert und es manchmal auch auf die Macgyver-Art gelöst. Aber es hat mir wirklich geholfen, in meinem Kopf eine genaue Vorstellung zu haben. Obwohl es etwas mehr Zeit und Mühe in Anspruch nahm als ich zuerst dachte, kam ich schließlich zu einem Ergebnis, mit dem ich glücklich war.
Was die Wahl von Venedig für ‚Anguished Are The Young‘ angeht: Eigentlich war es erst Zufall, ergab am Ende aber schnell Sinn. Ich und Viveka Goyanes (eine ausgezeichnete Fotografin und Modedesignerin) hatten vor, für eine Weile nach Venedig zu gehen, um an einem Kunstprojekt zu arbeiten. Während der Planungsphase kamen wir auf die Idee, dort auch gleich das nächste Video für mein Projekt zu filmen, da die dekadente und doch prächtige Architektur und Atmosphäre der Stadt sehr gut zu dem passt, worum es in dem Song geht.
‚Anguished Are The Young‘ dreht sich textlich um die Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit der heutigen Jugend. Als wie autobiografisch würdest du dieses Lied betrachten und hast du immer noch das Gefühl, dass du nach einem Lebenssinn suchst oder hast du den in deiner Musik inzwischen gefunden? (‚Leaving‘ oder ‚Nightly Sun‘ scheinen schließlich schon wieder optimistischer zu sein…)
Gute Frage! Der Track ist sehr autobiographisch, funktioniert aber auch auf einer allgemeinen Ebene. Mein Gedanke war, dass Hilflosigkeit und Desorientierung weltweit und über alle Zeitepochen hinweg auftritt und jeden Menschen treffen kann. Die Musik und den Text zu ‚Anguished Are The Young‘ schrieb ich mit siebzehn, also ist der Song tatsächlich der Gedanke und das Gefühl einer Teenagerversion von mir selbst. Der Grund, warum ich es zehn Jahre später aufgenommen habe, ist der, dass ich mich vor Kurzen in einer ähnlichen Lebenssituation befand wie damals; völlig desorientiert und voller Zweifel über meine Entscheidungen – aber gleichzeitig sehr inspiriert. Es machte Sinn, den ersten Schritt meiner neuen Singer-Songwriter-Reise in diesem Abgrund zu beginnen, dort wo diese Gefühle der Verwirrung und Frustration ausgelebt werden konnten. So wie die ‚Göttliche Komödie‘ damit beginnt, dass Dante im Wald herumrennt und sich verirrt hat, möchte ich, dass dieses Kapitel in meinem Leben auch am tiefsten Punkt meines Seins beginnt. Somit kann es zur Therapie und zum Neuanfang werden. Ich habe mich neu geordnet und fange noch einmal ganz von vorne an. Deshalb ist das Video zu dem Lied auch schwarz und weiß gehalten (die Stadtbilder symbolisieren das innere Labyrinth) und der Name der EP „The Dark Night Of The Soul“
Im Booklet befindet sich dein Gemälde mit dem Titel „Nigredo“ – wenn mich nicht alles täuscht, stammt der Begriff aus dem Lateinischen und bedeutet, dass etwas sterben und verrotten muss, bevor es in einen höheren Zustand des Sein aufsteigen kann; ein Gedanke, der auch immer wieder in einigen TRIBULATION-Songs durchschimmert. Wie oft warst du im Leben mit dem Gedanken konfrontiert, dass du aufgeben und alles verlieren musst, um eine stärkere Person (oder ein besserer Musiker) zu werden?
Die Frage stelle ich mir jeden Tag. Wie weit bin ich bereit zu gehen und was möchte ich opfern, um meinen Träumen zu folgen und als Mensch zu wachsen? Oder macht das erstere das letztere unmöglich? Bin ich auf dem richtigen Weg, um an mein Ziel zu gelangen? Ich habe keine Antworten auf diese Fragen, aber ich muss einfach weiter voran gehen, während ich über sie nachdenke. Mein Bauchgefühl hingegen ist simpel, es sagt mir stets nur eins: „Machen! Erschaffen! Fühlen! Bewegen! Transzendieren!“. Egal wie abgelenkt oder verwirrt ich auch bin, ich kann mich immer auf mein Bauchgefühl verlassen, wenn ich nicht weiß, was gut ist und in welche Richtung ich gehen soll.
Du hast die Songs in deinem eigenen Zimmer Zuhause aufgenommen, was den Recording-Prozess sicherlich vereinfachte – trotzdem verfolgtest du den Plan, eine EP zu veröffentlichen, schon seit vielen Jahren, deshalb schien wohl doch nicht alles so einfach gewesen zu sein. An welchem der vier Songs musstest du am längsten arbeiten, um ihn fertigstellen zu können?
‚…And The Pillars Tremble‘ war eine harte kleine Nuss, da der Song ausschließlich aus vokalen Harmonien besteht, und das ist unglaublich schwierig. Ich bin auch ein Perfektionist, das hat es nicht gerade leichter gemacht, wenn es um schnelles Arbeiten geht… aber zumindest war ich mit dem Ergebnis zufrieden, als es fertig wurde. Doch je mehr ich mich in das Thema einarbeite, desto leichter fällt es mir auch, Songs zu schreiben, deshalb wird es definitiv auch bald ein richtiges Album geben!
TRIBULATION sind in ihrem Schaffen sehr eigensinnig und auch auf deiner Solotour hast du viel mit Make-Up experimentiert. Hast du deiner eigenen Kreativität jemals Grenzen gesetzt und gesagt „Okay, das könnte etwas zu seltsam sein…“ oder sind diese Grenzen genau das, wonach du in deinem kreativen Prozess strebst?
Rechts und links von dieser Grenze finden die wirklich interessanten Dinge statt. Wenn ich einen Fuß auf der Erde und einen im Himmel habe, ohne dass ich dabei umkippe, genau dann fühle ich mich in Bestform. Dabei ist es auch nötig, dass ich aus meiner Komfortzone herauskomme. Erst wenn ich es wage, meine eigenen Grenzen zu überschreiten, wird es für mich interessant. Jedes Mal wenn ich auf Nummer Sicher gehe, fühle ich mich gelangweilt und unerfüllt, und so, als hätte ich bloß meine Zeit verschwendet. Ich finde eine Menge Inspiration in William Blakes „Proverbs Of Hell“, denn er hat den Grundgedanken, dem ich folge, immer wieder in Worte gefasst:
”You never know what is enough unless you know what is more than enough”, ”The road of excess leads to the palace of wisdom”, ”He who desires but acts not breeds pestilence” und ”No bird soars too high if he soars by his own wings”.
Hast du aktuell weiteren Solo-Tourdaten geplant oder konzentrierst du dich erst einmal wieder auf TRIBULATION?
Es gibt ein paar Pläne, aber neben der Show in Roadburn im April habe ich im Moment nichts Offizielles. Ich werde mein Bestes geben, um TRIBULATION und mein Soloprojekt gleichwertig zu behandeln, denn beide sind mir sehr wichtig und es würde zu sehr weh tun, wenn ich mich zwischen den beiden entscheiden müsste. Ein faires Gleichgewicht ist auch hier einfach alles.
Folgt dem Herren hier auf Facebook: https://www.facebook.com/chantsfromanotherplace/
Die EP „The Dark Night Of The Soul“ erschien im September und ist hier erhältlich. Aktuell tourt Jonathan mit TRIBULATION auch durch unsere Lande, ihr viertes Album „Down Below“ erscheint diesen Freitag. Also ich würd’s kaufen. Just sayin‘.
https://www.youtube.com/watch?v=6UTwg4HtJwE
ENGLISH VERSION
Since August, this little email interview was caught in the cozy purgatory of the internet, in constant fight against busy band schedules, but as everyone knows, good things come to those who wait – just like the solo EP „The Dark Night Of The Soul“ from TRIBULATION’s guitarist Jonathan Hultén, who is normally walking different paths with his death metal / vintage rock chimera, but still spent his freetime brewing a beautiful little collection of acoustic songs underneath his bed. In September 2017, the dreamy, curageous and bizarrely magical tracks written, recorded and performed by Jonathan saw the daylight in form of a debut EP, before he presented them to whole Europe as support act of Crippled Black Phoenix. Currently, the 28-year-old Swede is already back on the road with his main duty TRIBULATION, but just like the internet, Jonathan’s head – permanently filled with new unconventional ideas – does not forget. Five months later, thanks to a fortunate WiFi spot on a day off, the interview worked out. And just like every time when having a chat with him, it was definitely worth the wait.
When did you first feel the need to develop both musical sides inside of you, the soft and the aggressive one? For most other musicians it would feel like an impossible task to be a successful extreme metal musician and singer/songwriter at the same time, but for you it seemed absolutely natural? (even Nergal had to take some criticism for his country project…)
As a child I was drawn to the more dramatic and heavy side of music, but only a few years later I picked up an acoustic guitar and developed a need to express myself through singing. Growing up I hung out with a lot different people with a lot of different tastes in music so to me it was as natural to listen to Morbid Angel as to José Gonzales or Looptroop. I performed a couple of times as a singer-songwriter when I was around seventeen-nineteen years old, but when I moved away from my hometown I abruptly stopped, suddenly convinced that it is ONLY metal that I should be putting my energy into. Eventually it turned out that I couldn’t keep myself from writing acoustic material and after a few years the urge to sing again had gotten so big that I realized I had to do it or die very unhappy. So absolutely, since it has always been a part of me it only felt natural to finally materialize what I had been carrying inside for so long.
Your music videos are little pieces of art in themselves and ‚Nightly Sun‘ is very homogeneous with many of your painting and previous artworks. How difficult was it for you to put this style into moving pictures? And for ‚Anguished Are The Young‘: Why in particular did you choose Venice as setting for it?
It proved to be somewhat difficult figuring out how to produce and translate the images that I had in my head into a video. I had no previous knowledge in how to create or use special effects and very limited experience working with Final Cut. I had to improvise my way forward and find MacGyver solutions along the way. But it really helped knowing exactly what I wanted it to look like, so although it took some extra time and effort I eventually reached a result I felt happy with.
As for choosing Venice for ‚Anguished Are The Young‘ it came to be by coincidence but totally made sense in the end. Me and Viveka Goyanes (excellent photographer and fashion designer) had been planning to go to Venice for a while to collaborate on an art project. Some time into the planning stages we also came up with the idea of collaborating on the next video for the solo project as the decadent but splendorous architecture and atmosphere of the city fits very well with what the song is about.
‚Anguished Are The Young‘ deals with the disorientation and helplessness of the modern youth, if I’m not mistaken. How autobiographical would you consider this song and do you still see yourself striving for a real direction in life or have you found it in your music by now? (‚Leaving‘ or ‚Nightly Sun‘ seem to have more optimistic vibes however)
Good question! It’s very autobiographical but also works on a general level. The idea is that helplessness and disorientation is universal, ageless and applicable to everyone. The music and the lyrics of ‚Anguished…‘ were originally written when I was seventeen years old, so what you hear and read is actually the thoughts and feelings of a teenage-version of myself. The reason I picked it up ten years later was that I found myself in a similar position in life as back then; feeling completely disoriented and full of doubt about my choices – but at the same time very inspired. It made a lot of sense to make the first step of this new singer-songwriter-journey into a descent where these sensations of confusion and frustration could be acknowledged and be lived out. Like how the Divine Comedy starts with Dante running around in the forest having lost his way I want this chapter in my life to also start at the lowest point of my being. Then it can become like a purging; I am resetting myself and start from scratch. That is why the video of the song is in black and white (the city imagery symbolizes the inner maze) and why the EP is called ”The Dark Night of the Soul”.
Inside the booklet you have the painting titled ‚Nigredo‘ – if I’m not mistaken, the expression derives from Latin, meaning that something has to die and rot, before it ascends into a higher state of life; an idea that also shines through on some Tribulation songs. How often in life did you face the thought that you had to give up and lose everything in order to become a bigger person (or better musician)?
I am thinking about that every day. How far am I willing to go and what am I willing to sacrifice in order to follow my dreams and to grow as a human being? Or does the former actually make the latter impossible? And am I even walking on right path to achieve anything as such? I have no answers to these questions, but I have to keep on walking forward while I am pondering over them. My guts on the other hand are simple, they are telling but one thing; ”Do! Create! Feel! Move! Transcend!” However distracted or distant my mind is I can always rely on my guts to give me guidance and the courage to keep on going forward.
You recorded the songs in your own room, which surely makes things easier – nevertheless the plan to release an EP has been with you for several years, so it didn’t seem to be that easy in the end. Which one of the 4 tracks took you the longest to write or record?
”…And the Pillars Tremble” proved to be a hard nut to crack as it consists solely out of vocal harmonies and that is usually the hardest thing to get down. I am also a perfectionist which does not really help in terms of working faster, but at least I can feel happy with the result once it is done. But I have a feeling that the more I do this the faster I will reach the result I am aiming for, so there will definitely be an album coming out soon!
Did you ever set any boundaries to your own creativity, saying ‚okay, that might make things a little too weird‘ or are these limits exactly what you aim for?
It is around these limits where the really interesting things are taking place. When I have one foot on the earth and one in the sky without tipping over to one or the other is when I feel like I am at my best. That requires me to step out of my comfort zone. Only if I dare to go beyond my own limits I feel like I am truly being rewarded. Everytime I play safe I end up feeling regretful and unfulfilled, like I have wasted my time. I find a lot of inspiration and support in William Blake’s ”Proverbs of Hell” which are very good at putting this idea into words with quotes like; ”You never know what is enough unless you know what is more than enough”, ”The road of excess leads to the palace of wisdom”, ”He who desires but acts not breeds pestilence” and ”No bird soars too high if he soars by his own wings”.
Do you have any further tour dates planned or is your focus back on TRIBULATION?
There are some plans being made, but beside the show at Roadburn in April I have nothing booked at the moment. Regarding the focus shifting to Tribulation I will make my utmost to put both projects on the same priority level. Both are very important to me and it would hurt too much to have to choose between them. Even here there is a balance to be found.
To stay updated about the future of his solo project, give Jonathan a little thumb up here on Facebook or have a look at his homepage.
The debut EP „The Dark Night Of The Soul“ was released in September via Nightly Sun Records and is available here. Currently, Jonathan is touring Europe with TRIBULATION, and their fourth album titled „Down Below“ is due to come out this Friday. If I were you, I’d buy it. Just sayin‘.
(Anne Catherine Swallow)