Seit den Neunzigern rodeln die Mailänder von LACUNA COIL an der absoluten Spitze des Gothic Metal Bergs und auch wenn das Genre selbst sich längst nicht mehr der Beliebtheit erfreut, wie noch vor zehn Jahren, füllt die Truppe um die Co-Frontsänger Cristina Scabbia und Andrea Ferro weiterhin riesige Hallen auf der gesamten Welt. Doch statt sich nach Jahrzehnten des Erfolgs auf ihren Lorbeeren auszuruhen, schlagen die Italiener mit ihrem Neuling „Delirium“ ein komplett neues Bandkapitel auf – härter, schneller, fast schon im Metalcore angesiedelt, doch mit weiterhin wundervoll geisterhaften Vocals. Sie öffnen dem Hörer die Türen zu ihrer ganz privaten Nervenheilanstalt und laden alle dazu ein, an dem schaurigen Wahnsinn teilzuhaben. Wir fingen das sympathische Duo in Dortmund ab, um über das Konzept der Scheibe, ihre eigenen Dämonen, Social Media Entgleisungen und natürlich Star Wars zu plaudern.
Sound Infection: Erst einmal großen Respekt dafür, dass ihr euch nach so vielen Jahren noch einmal komplett neu erfunden habt – „Delirium“ ist eine richtig heftige Scheibe geworden und besonders deine Vocals, Andrea, sind aggressiver denn je!
Cristina: Ha, wir mussten ihm sehr lange gut zureden, damit er sich traut! (lacht) Ich meine, es ist kein komplett neuer Stil – wenn man sich unsere allerersten Alben anhört, findet man dort auch schon Growls, doch nicht so stark wie jetzt. Ich liebe seinen härteren Gesang, aber in den letzten Jahren hatten wir nie das Gefühl, dass es sich glaubwürdig in die Musik integrieren ließe. Doch in „Delirium“ passte es wie die Faust auf’s Auge, wir schlagen mit diesem Album nicht nur ein neues Kapitel auf, sondern es fühlt sich sogar so an, als würden wir ein komplett neues Buch schreiben.
Andrea: Ja, alles war viel freier angelegt diesmal. Marco, unser Bassist, schrieb die Musik und als er uns den ersten Song vorstellte, bemerkten wir gleich, dass es viel härter und komplexer ist. Und da wir schließlich auch seit kurzem einen neuen Schlagzeuger haben, entschlossen wir uns dazu, ihn in vollem Umfang einzusetzen – wir schubsten ihn an sein Limit und er schaffte es wirklich, alle Songs innerhalb von drei Tagen einzuspielen. Und letztendlich entschlossen wir einfach, dass es Zeit für LACUNA COIL ist, sich nicht in einem Klischee einzusperren und immer nur dieselbe sichere Route zu fahren. Und so verbinden wir nun einen neuen, härteren Stil mit dem klassischen Feeling von früher.
Ihr verfolgt diesmal ein klares Konzept und schöpft das „Irrenhaus“ nicht nur akustisch, sondern auch visuell genial aus, mit einem sehr coolen Artwork – wie kamt ihr ursprünglich auf die Grundidee?
Cristina: Alles begann mit dem Wort ‚Delirium‘. Es öffnete uns so viele Türen und die Inspiration sprudelte von allein – in wenigen Tagen wussten wir schon, wo dieses Album hinführen sollte, wir sahen es regelrecht vor uns, mit dem Artwork und all seinen spielerischen Facetten. Oftmals entwickelt man beim Schreiben von Songs ein paar seltsame Ideen und weiß gar nicht so genau, woher sie eigentlich kommen, außer vielleicht aus persönlichen Erfahrungen – aber diesmal war alles so einfach. Es brauchte nur das kleine Wörtchen ‚Delirium‘ und schon hatten wir einen Film in unseren Köpfen über diese fiktive Nervenheilanstalt, zu der wir durch eine reales, verlassenes Krankenhaus außerhalb von Mailand angeregt wurden. Und so wuchs in unserem Kopf die Vorstellung von einem kalten, einsamen Ort, der von verschiedenen Patienten mit ihren eigenen Geschichten heimgesucht wird, ob echte Erinnerungen, Wahnvorstellungen oder die Geister aus vergangener Zeit. Zwar schrieben wir alle Song mit dieser Grundidee im Hinterkopf, doch trotzdem sollten die Lieder offen bleiben, sodass jeder sie nach seinem Geschmack interpretieren kann. „Delirium“ ist so ein einfaches Wort, aber mit einer solch gigantischen Spannweite und jeder hat eigene Vorstellungen davon.
Andrea: Wir wollten die „heftige“ Verrücktheit einer Anstalt mit der „alltäglichen“ Verrücktheit verbinden, schließlich hat jeder seine Dämonen. Auch beim Songwriting mussten wir uns einige Male Auszeiten nehmen, ob Krankheit, Tod, Beziehungsprobleme, jeder kämpft täglich mit sich. Und so möchten wir beides in der Musik verbinden.
Wenn ihr euch im Leben euren Dämonen stellen musstet, wie habt ihr mit ihnen gekämpft und wie habt ihr sie besiegt?
Cristina: Jeder trägt einen kleinen Dämonen auf der Schulter und manche kommen damit leichter klar als andere. Wir selbst stellten bei uns fest, dass es auch Probleme gibt, die man erst ab einem gewissen Alter miterlebt und an die man vorher gar nicht denken wollte – wie den Tod von Freunden und Angehörigen. Man merkt irgendwann, was einem im Leben wirklich wichtig ist, aber kann daran dann auch zerbrechen. Depressionen, Besessenheit, Verwirrung… das sind Themen, die den meisten Leuten bekannt sind und wir verarbeiteten sie eben in unserem „Delirium“.
Andrea: Ja, unsere Texte waren schon immer zu einem bestimmten Grad autobiografisch. Wir können einfach keinen Fantasykram schreiben und über Drachen singen, deshalb kommen unsere Ideen meist aus dem realen Leben – und da sind wir nicht die einzigen. Selbst wenn du dir „Herr der Ringe“ anschaust, wirst du feststellen, dass die Schlachtszenen von echten Erlebnissen von Tolkien inspiriert wurden – er war Veteran des Ersten Weltkriegs und musste viel verarbeiten. Es muss nicht immer alles 1:1 übernommen werden, wenn man sich Probleme von der Seele schreiben möchte, manchmal tut es auch gut, sie zu verzerren, damit jeder sich damit identifizieren kann. Oftmals kommen Fans auf uns zu und erzählen, wie ein bestimmter Song ihnen durch eine Problemzeit ihres Lebens geholfen hat, wie beispielsweise den Verlust ihrer Eltern. Ursprünglich hatten wir jenen Song nicht über Eltern geschrieben, aber Fans erkannten das darin wieder und das fanden wir immer toll. Man lässt den Song los und verliert die Kontrolle über ihn, sobald er von anderen gehört wird.
Cristina: Doch manchmal erholt man sich auch gar nicht von einer Sache. Man muss im Leben auch irgendwann verstehen, dass es Dinge gibt, über die man nicht hinweg kommt. Spannung, Ängste, die wird man eventuell niemals los und deshalb muss man auch lernen, sie zu akzeptieren. Das Leben ist nicht leicht und einfach, nichts wird je perfekt sein, nicht einmal das Leben des glücklichsten Menschen ist perfekt. Und wir erschufen „Delirium“, um Leuten zu helfen – sicherlich ist unser kleines Irrenhaus nicht der angenehmste Ort der Welt, aber jeder ist willkommen und kann sich dort verstanden fühlen.
Andrea: Leute fragten uns auch oft, ob das „Delirium“ etwas Gutes oder etwas Schlechtes sei. Aber wir sehen es in beide Richtungen machbar. Du kannst dein echtes Leben nicht photoshoppen. Und auch wenn die meisten Leute über Social Media den Eindruck vermitteln wollen, dass ihr Leben toll ist, darf man doch niemals vergessen, dass man nur ein winziges Fragment davon sieht. Die Realität ist ganz anders und so ist auch dieses Album. Es ist nicht perfekt, aber es soll das Leben, wie es tatsächlich ist, einfangen.
Bleiben wir mal beim Thema Social Media: Vor nicht allzu langer Zeit wurden ja eure offiziellen Facebookaccounts gehackt und allerhand Blödsinn damit angestellt. Wie kamen sie letztendlich wieder in eure Kontrolle und was passierte mit dem Typen, der euch angegriffen hat?
Cristina: Oh Gott, ja! Das war mein Weihnachtsalptraum… oder Nightmare Before and During Christmas! (lacht) Im ersten Moment dachte ich, die Seite wäre gehackt und hatte ziemlich Schiss, wer sich denn nun durch unseren Kram wühlt und ständig Unsinn postet. Aber dann machte ich einige Recherchen, untersuchte die Posts… und fand heraus, dass diese Person nicht über meinen Account selbst agiert, sondern über eine Facebook-App, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existiert, aber sie erlaubt dir, einen Account zu erstellen und damit fremde Seiten zu kontrollieren. Also saß die Person fröhlich Zuhause und postete Zeug auf unserer Seite – ich weiß nicht, wie das so einfach möglich war, aber es war zum Verzweifeln.
Andrea: Hinzu kam das Problem, dass gerade Weihnachten war und kaum jemand arbeitete im amerikanischen Facebook-Office. Dann noch die Zeitverschiebung und somit dauerte es immer ewig, bis wir eine Rückmeldung vom Hilfeservice bekamen. Also schalteten wir das Century Media Office in den USA ein, in der Hoffnung, dass es schneller ginge… Glücklicherweise funktionierte es.
Cristina: Ich verstand noch nicht einmal das Problem damals! Die Posts auf der Seite waren ja nicht anstößig oder beleidigend, es waren einfach nur Links, durch die der Hacker mehr Klicks auf seiner Seite haben wollte. Es war ein riesiger Mist. Aber das zeigte uns letztendlich wieder die zwei Seiten des Internets. Einerseits kannst du mit der gesamten Welt deine Gedanken teilen, es gibt keine Grenzen im Internet, aber andererseits kann es dir passieren, dass jemand regelrecht deine Identität stiehlt und es womöglich auch noch niemand merkt.
Dennoch seid ihr sehr aktiv auf Facebook, antwortet auf fast jeden Kommentar, den ihr von Fans unter eure Beiträge bekommt und diskutiert auch gerne mal mit den Leuten – wird euch das nicht auf Dauer zu anstrengend?
Cristina: Es ist keine harte Arbeit – wenn du ein oder zwei Mal am Tag ein Foto oder einen neuen Status postest, dauert das nicht länger, als das Senden einer SMS. Und ich genieße es einfach, dass wir selbst in der Kontrolle unseres Onlineauftritts sind. Sicherlich würden wir viel mehr Klick und Likes bekommen, wenn wir die Arbeit in die Hände eines Webmasters oder einer Agentur legen würden, aber für uns ist es wichtig, das direkte Feedback der Fans zu bekommen und uns mit ihnen auszutauschen. Ob auf Twitter, Facebook, Tumblr oder Instagram – das sind alles wir selbst. Sicherlich ist es nicht immer einfach, alles aktuell und spannend zu halten, aber wir geben unser Bestes.
Andrea: Ja, mittlerweile wird es wirklich zu einem eigenen kleinen Job für uns (lacht). Früher gab es nur eine oder zwei Social Media Seiten, doch mittlerweile muss man auf jedem Portal vertreten sein, um nichts zu verpassen.
Cristina, du hattest kürzlich so tolle Fotos von der Comic Convention gepostet und bist auch ein bekennender Filmfreak, also hier die obligatorische Frage: Wie gefiel dir der neue Star Wars?
Cristina: Ich liebte ihn! Ich bin schon am ersten Tag ins Kino gegangen und hatte das Ticket Monate vorher reserviert! Ich ging als Leia verkleidet zu der Premiere, na ja, ich hatte Ohrenschützer auf… aber Mann, ich liebte den Film. Zuvor hatte ich mir große Sorgen gemacht, dass sie den Streifen versauen, denn die letzten drei Episoden waren ja nicht gerade der Renner – zu viele Special Effects, zu wenig Herz. Aber der neue gefiel mir sehr gut, gerade weil sie auch so viele alte Charaktere noch einmal ins Spiel brachten und sie quasi die Fackel übergeben. Außerdem mochte ich die Tatsache, dass sie für die jüngeren Schauspieler unbekanntere Personen ausgewählt haben. Bei den vorherigen waren mir zu viele Stars dabei – als ich Natalie Portman sah, dachte ich mir nur „Ah, Natalie Portman!“. Ich habe nichts gegen sie, aber es gelang mir nicht, sie als echten fiktiven Charakter wahrzunehmen, sondern ich sah einfach nur die Schauspielerin in ihr. Aber was mich am neuen Film störte, waren die moderneren Stormtrooper. Da bin ich Old School Fan, haha!
Interview: Anne Catherine Swallow