Als Alissa White-Gluz im Frühjahr ihre Frontfurien-Stelle bei The Agonist hinter sich ließ, um künftig bei Arch Enemy zu wüten, hatten viele Fans schon das Ende der Band vermutet. Doch die Herren fackelten nicht lang und zogen gleich ihr Zauberkaninchen namens Vicky Psarakis aus dem Hut, die die Metalcore-Maschine künftig weiter ölen sollte. Mit Erfolg! Das neue Album soll im November unter dem Namen „Eye Of Providence“ erscheinen und jetzt schon können die Kanadier damit problemlos an ihre alten Erfolge anknüpfen. Wir fingen die sympathische, blonde Sängerin Vicky und Gitarristen Danny Marino zwischen zwei Regenschauern auf dem Summer Breeze ab, um zu sehen, wie sich das Quintett mittlerweile miteinander eingelebt hat.
Sound Infection: Hallo ihr beiden, danke, dass ihr euch Zeit für uns nehmt! Für „Disconnect Me“ habt ihr phänomenale Promofotos geschossen, Vicky, du hängst an Seilen in der Luft und das Ganze hat einen genialen Superhelden-Touch – wie sind die Bilder entstanden und wie viel davon wurde im Nachhinein mit Photoshop hinzugefügt?
Danny Marino: Die Bilder wurden von unserem guten Freund Von Wong gemacht, ein Fotograf aus Montréal – ich trage auch gerade ein Armband von ihm, weil ich ein solcher Fan bin, schau! Er hat schon zwei Mal mit uns gearbeitet und wir lieben seine Bilder! Natürlich gab es im Nachhinein noch ein bisschen Hilfe von Photoshop, aber trotzdem waren wir alle fünf in dieser Szenerie zusammen…
Vicky Psarakis: …und ich hing tatsächlich dort oben. Man hatte mich an einem Klettergurt befestigt und ich baumelte an einer Kette – die wurde natürlich letztendlich vom Foto entfernt.
Danny: Aber sie hing garantiert sechs Stunden dort! Es hat ewig gedauert, diesen perfekten Shot zu bekommen, dass jeder von uns genau so aussah, wie er sollte und die Funken auch richtig flogen. Der Shoot selbst brauchte ganze sechzehn Stunden und wir hatten eigentlich schon versucht, Vicky nur so kurz wie möglich dort oben in den Seilen hängen zu haben…
Vicky: Und all das passierte gerade mal zwei Wochen, nachdem ich der Band beigetreten war und es wirkte herrlich wie ein „Hallo Vicky, schön, dass du dabei bist, wir hängen dich mal kurz, okay?“
Das war dann bestimmt erst einmal deine Aufnahmeprüfung! So Vicky, auf deinen Schultern lastet ziemlich großer Druck, aber bisher hast du es super gemeistert. In einem Interview mit dir hatte ich gehört, dass du deine Growl-Stimme eher durch Zufall entdeckt hast – wie kann das denn passieren, viele Leute üben ja ihr Leben lang und bekommen es trotzdem nicht so hin?
Vicky: Ich habe schon seit vielen Jahren gesungen und mich immer wieder an neuen Genres und Techniken ausprobiert. Aber ich hatte erst vor etwa einem Jahr mit dem growlen begonnen, ich war in einer Bar mit Freunden und wir alberten herum und sangen und ich weiß zwar nicht mehr genau, welcher Song es war – ich glaube, In Flames! – aber ich probierte es einfach aus und ein Kumpel meinte „Wow, das war gut, du solltest mal ein Cover aufnehmen!“
Also hast du nie Gesangsstunden bekommen – keine Unterstützung von Melissa Cross?
Vicky: Oh nein, leider nicht, aber ich würde uuunglaublich gern mit ihr arbeiten. Hoffentlich kann ich das eines Tages mal…
Dennoch scheinst du ja eine gute Technik beim Schreien zu haben, viele, die das spontan ausprobieren, sind daraufhin ja erst einmal fünf Tage lang heiser…
Vicky: Vieles war mir durch das „normale“ Singen schon bekannt, die Atemtechnik ist die Gleiche und somit begann ich nicht bei Null. Aber natürlich ist es dennoch eine enorme Belastung für die Stimmbänder, das heißt, selbst, wenn du es richtig machst, kann es schnell passieren, dass du dir die Stimme ruinierst. Also musst du deine eigene Methode entwickeln.
Obwohl euch mit Alissa White-Gluz ja nun ein wichtiger Textschreiber abhanden kam, haben sich die Themen in euren Lyrics nicht allzu sehr verändert, wo weit wie man das bisher beurteilen kann. Wer übernimmt nun den Hauptpart des Schreibens?
Vicky: Wir steuern alle unseren Teil bei, Danny, ich, unser Drummer…
Danny: Alissas Lyrics waren sehr von Umweltproblemen geprägt, es geht uns immer noch sehr viel um dieses Thema, aber auf diesem Album bewegen wir uns auch mal in andere Richtungen, wir haben einige soziopolitische Aspekte, über die wir schreiben, Eingriff in die Privatsphäre, Überwachung durch die Regierung, darauf liegt der Hauptfokus des Albums.
Wie sehr belastet dich diese Angst vor der Überwachung im alltäglichen Leben?
Danny: Ziemlich. Die Tatsache, dass Facebook, Google, diese ganzen Apple-Geschichten alles über dich wissen und alles zu Werbezwecken verwenden, ist furchteinflößend. Sie treffen dich an deinem schwächsten Punkt, ohne dass du es überhaupt mitbekommst und wollen überall nur dein Geld absahnen. Es ist gruselig, aber auf der anderen Seite auch sehr interessant. Ich habe selbst in Technikfirmen gearbeitet und sehr früh mit Dingen zu tun gehabt, die später veröffentlicht wurden und wo man genau beobachten konnte, wie sie die Menschen verändert haben. So kam ich ursprünglich auf die Idee, diese Themen zu behandeln.
Vicky: Mittlerweile ist es so einfach geworden, jemanden zu treffen. Früher sah man noch Leute am anderen Ende des Raums sitzen und war zu schüchtern, sie anzusprechen, heute geht man kurzerhand hin, fragte nach dem Facebooknamen und klärt dann alles weitere online und bleibt dort im Gespräch.
Danny: Ich habe heute wesentlich mehr Bekannte als damals, aber dafür umso weniger enge Freunde. Heute ist es normal, dass man 500 Freunde bei Facebook hat, obwohl man eigentlich nur fünf davon persönlich kennt. In der High School hatte ich vielleicht zwanzig enge Freunde – heute ist das nicht mehr der Fall. Aber es hat alles seine Vor- und Nachteile.
Eure Band hat sich immer sehr für Tierschutz und vegane Lebensweise eingesetzt – wie seht ihr es dann, dass zwei Slots später auf derselben Bühne wie ihr, eine Band spielt, die mit Tierblut um sich wirft und Viehköpfe aufspießt?
Danny: Haha, du meinst Watain? Ich weiß nicht, ich werde nicht versuchen, sie davon abzuhalten, es ist ihre eigene Entscheidung, was sie da treiben. Wenn es ihnen Spaß macht, vor jeder Show erst mal bei einem Schlachter ranzufahren, dann sollen sie das ruhig tun. Ich selbst würde das niemals für unsere Konzerte machen, aber diese strenge vegane Lebensweise war Alissas Ding, wir selbst sind keine Veganer. Aber meine Frau ist Vegetarierin, unser Bassist, ich selbst esse auch nur selten Fleisch, mir geht es aber weniger um eine streng restriktive Ernährung – viel mehr um die Art und Weise wie wir Fleisch heutzutage konsumieren, wie die Tiere in Massenhaltung gezüchtet werden und am Ende doch nur im Müll landen, weil in den Supermärkten zu viel angeboten wird. Wenn wir alle ein bisschen weniger Fleisch essen würden, könnte auch die Massenproduktion eingeschränkt werden und Tiere hätten ein besseres Leben, bevor wir sie schlachten. Stattdessen ist alles auf Profit ausgerichtet und das ist einfach falsch im Umgang mit Lebewesen.
Das Gitarrensolo in „Disconnect Me“ wurde mit einem gebrochenen Handknochen aufgenommen, ist das richtig? Seid ihr mittlerweile wieder alle funktionsfähig?
Danny: Ja, Gott sei Dank. Das war Paco, unser anderer Gitarrist. Ich erinnere mich noch, dass er mich anrief, als wir gerade mitten in den Aufnahmen für das Album steckten und er meinte nur „Hey Mann, ich hab mir da so ein bisschen die Hand gebrochen“. Es war jetzt kein eigenes Verschulden, sondern einfach nur ein Unfall, aber seine Improvisation mit dem Tapping war letztendlich echt genial, wir hatten noch nie mit dieser Methode gearbeitet, aber es wurde cool.
Was sollte eurer Meinung nach jeder Mensch in seinem Leben ein Mal gemacht haben?
Vicky: Im Prinzip genau das, was er selbst tun möchte. Ich denke, jeder hat eine persönliche Vorstellung davon, was ihm im Leben wichtig ist, egal ob es nun etwas Normales oder etwas total Verrücktes ist. Man sollte es einfach durchziehen, solange man noch jung ist und nicht zu sehr vor den Konsequenzen Angst haben. Denn wenn man alt ist, bereut man sicher, es nicht probiert zu haben. Dabei ist das Leben zu wertvoll, um es mit Ängsten und Zögern zu vergeuden!
Danny: Ich würde auch sagen: Versuche alles, bereue nichts! Das hat mir mal ein Freund geraten und ich gebe mir Mühe, dem immer nachzukommen.
Interview: Anne Catherine Swallow