Ihre Musik ist derart gefühlsgeladen, dass es beinah schmerzt, seit über zwanzig Jahren begeistern sie Fans aus allen Stilrichtungen und die Kritiker sind ebenfalls am Jubeln – die Briten von Anathema scheinen alles richtig gemacht zu haben und das, obwohl sie in ihrer langen Karriere in beinah jedem nur erdenklichen Genre experimentierten und keins ihrer Alben klang, wie das vorherige.
Frontsänger und Gitarrist Vincent Cavanagh scheint damit jedoch seinen inneren Frieden gefunden zu haben und sprach mit uns über seine Vergangenheit mit Spielzeug-Kassettenrecordern, Golfspiel in Kathedralen, das Glücklichsein und – ja, natürlich! – die Fußball-WM.
Anne: Hi Vincent, danke, dass du für uns Zeit hast! Euer Albumname „Distant Satellites“ hat ja scheinbar nichts, wie manche vermuten, mit dem Weltall zu tun, sondern bezieht sich auf zwischenmenschliche Beziehungen und darauf, dass Leute im Leben wie auf einer Sternenlaufbahn um einen Kreisen – mal sind sie ganz in der Nähe, mal sind sie so weit entfernt, dass man sie beinah aus den Augen verliert. Wie handhabst du es persönlich, wenn du merkst, dass enge Freunde plötzlich immer mehr von dir abdriften?
Vincent Cavanagh: Die wichtigsten Menschen in deinem Leben kannst du nicht verlieren. Man darf es einfach nicht zulassen. Oft ist es schwer, weil es Zeiten gibt, in denen man nicht miteinander klarkommt, aber das Schlimmste ist, wenn Menschen stur sind. Mein ganzes Leben lang beobachtete ich Familien, die Jahrzente nicht miteinander sprachen, nur weil eine Person sich stur verhielt, gerade unter Brüdern passiert so etwas häufig und ich finde es schrecklich, das zu sehen. Denn irgendwann liegt jeder auf dem Sterbebett und bemerkt, dass es dumm war und man so unglaublich viel kostbare Zeit verloren hat. Deshalb gebe ich mir Mühe, meine eigene Familie so nah wie möglich bei mir zu behalten, wie mit meinen Brüdern in der Band – da greift auch wieder das Bild der kreisenden Satelliten, wir alle drehen uns um die Musik, sie ist der Himmelskörper, der uns zusammenhält. Denn ohne unsere Band wüsste ich nicht, wie oft ich Danny und Jamie überhaupt sehen würde, wir leben alle in verschiedenen Ländern mittlerweile und das macht es schwer. Aber man darf nicht vergessen, dass Menschen das Wichtigste im Leben sind – zumindest für mich persönlich.
Wenn du schon von deinen Brüdern sprichst, wann war das erste Mal, dass Danny, Jamie und du euch mit Instrumenten zusammengesetzt habt, begann das schon, als ihr noch Kinder wart?
Oh, wir waren vielleicht fünfzehn. Darren, unser früherer Sänger, hatte so einen Fisherprice-Kassettenrecorder zum Aufnehmen, dieses Kinderspielzeug, weißt du? (lacht) Und eigentlich saßen wir nur als junge Schüler da und machten Kassetten voller lustiger, bizarrer Musik. Ich und Jamie versuchten uns oft gemeinsam an Songideen, während Danny derjenige war, der schon etwas mehr Ahnung von der Materie hatte. Eines Tages um die Weihnachtszeit saßen wir noch zusammen und produzierten ein Tape auf so einem lustigen Kassettenrekorder und kaum ein paar Monate später spielten wir auf Geburtstagspartys, was amüsant war, da wir jedem erzählten, wir hätten eine „coole Band“, dabei war das eigentlich völliger Unsinn. Aber wer immer uns fragte, dem erzählten wir „Ja Mann, wir haben ’ne richtige Band!“, sodass wir zwei kleine Partys unterhielten – unser dritter Gig hingegen war schon im Vorprogramm von Paradise Lost! Dabei hatten wir kaum Ahnung von dem was wir taten, wir waren noch Kinder, total hektisch und unsere Stimmen klangen fürchterlich hoch, so „Wuääääääääh“ (imitiert Mädchengekreisch).
Und als wir dann unser zweites Demo fertig hatten, fiel uns plötzlich auf, dass wir wirklich anders als alle anderen klingen, das gab uns Selbstvertrauen und schon kam der Plattenvertrag und die Tour. Es ging verrückt schnell und scheinbar waren wir einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Wow – nach einem Jahr Bandgeschichte schon bei Paradise Lost im Support zu landen, ist wirklich genial…
Auf unserem ersten Album hatten wir noch eine ganz bizarre bunte Mischung aus verschiedenen Musikstilen, ich erinnere mich an diesen 23-minütigen Ambient-Track, der nur aus Synthesizern bestand, dann kam akustischer Kram dazu, ein paar klassische Dinger, weibliche Vocals im Gothic Stil… Wir wollten schon immer jegliche Richtungen erkunden und nichts unversucht lassen, man probiert alles aus, bis man seine eigene Stimme findet.
Obwohl ihr ja schon so viele Jahre als Band existiert und erfolgreich seid, findet man euch dennoch häufiger auch als Vorband – wie kürzlich in den USA bei HIM, die stilistisch ja doch recht unterschiedlich sind. Was war das bisher schwierigste Publikum, vor dem ihr spielen musstet?
Hmmmm… (lange Pause) schwer zu sagen, da fällt mir spontan gar nichts ein… Ich… nein… nein, ich weiß es wirklich nicht. Ich könnte jetzt sagen, wie sind so von uns selbst überzeugt, dass wir uns weigern eine schlechte Show zu haben (lacht). Nein, wenn wir uns selbst auf der Bühne langweilen würden, hätte das Publikum vielleicht auch schnell keine Lust mehr, aber da wir so in unserer Musik aufgehen und das scheinbar auch rüberzukommen scheint, war es nie ein Problem.
Gut, ich habe schon bei der Review zu eurem letzten Album bemerkt, dass es mir schwer fiel, euch in eine Schublade zu stecken, man kann euch sowohl als Metalfans mögen, als auch als Rock-, Pop- oder Progressive-Liebhaber…
Ja, wir haben eine riesige Diversität in der Musik, egal, ob man nur softe oder nur harte Sachen hört, es scheint für jeden etwas dabei zu sein.
Interessierst du dich eigentlich für Fußball und die WM?
Oh, ich liebe Liverpool! Aber wir kamen gerade erst von unserer Tour heim und ich habe mich noch nicht groß mit der Weltmeisterschaft auseinandergesetzt. Das England-Spiel wollte ich schauen, aber bin dabei eingeschlafen, weil wir gerade von der Bühne auf dem Downloadfestival kamen (lacht). Aber ich bin auch kein großer England-Fan um ehrlich zu sein, ich interessiere mich nur für Liverpool. Aber meine Vorhersage für den Weltmeister… hmm… vielleicht Deutschland, die haben Portugal wirklich zu Grunde gerichtet! Allerdings sind die Wetterbedingungen drüben in Brasilien ziemlich hart für alle Europäer, also haben die Südamerikaner vielleicht bessere Chancen.
Würdest du dich selbst als glückliche Person bezeichnen?
Ähm… definiere „glücklich“!
Nein, möchte ich gar nicht, weil jeder eine andere Definition von dem Begriff hat und mich deine eigene interessiert.
Dann bin ich glücklich! Nach meiner eigenen Definition: Ja! Gerade habe ich meine zweite Babykatze bekommen – meine erste Katze ist nun zwei Jahre alt und mächtig groß, ein richtiger „big fucker“, heißt Harry und war immer der King im Haus und ich hatte ziemliche Angst, dass er den Kleinen fertig macht, aber mittlerweile kommen sie ziemlich gut miteinander klar!
Ansonsten kam ich gerade von einer Tour zurück, habe viel gearbeitet und genieße nun die Zeit Zuhause bei meinen Katzen.
Vor drei Tagen habt ihr ja erst Akustikshows in riesigen gothischen Kirchen gespielt, leider habe ich nur Bilder gesehen, aber die Location war ja der Hammer!
Ja, das war unglaublich! Klosterkathedrale, tausend Jahre alt, die Abtei stammte sogar noch von 600 vor Christus. Ein großer Teil der Harry Potter Filme wurde dort gedreht, überall sind uralte Skulpturen, darunter auch eine, die – wie man sagt – das erste Fußballspiel der Geschichte darstellt! Es ist in Stein geschlagen und stammt aus dem frühen Mittelalter. Und in den Fenstern findet man Bilder von Leuten, die Golf spielen!! Hahaha, das waren also meine Wikipediafakten für dich!
Nein, es war wirklich genial, der Sound kam unvergleichlich herüber, insbesondere als das Publikum mitsang. Das sind unvergessliche Erlebnisse und wir würden gerne mehr davon haben. Bei euch in Deutschland haben wir das vor einigen Jahren auch schon gemacht, zusammen mit Opeth!
Ich glaube in der Kirchenatmosphäre mit eurer bewegenden Musik, wäre ich stundenlang nur am Heulen gewesen (lacht)
Ach, wie haben Taschentücher und jede Menge Wein für dich!
Was sind denn für dich die bewegendsten Momente im Leben?
Der vielleicht wichtigste Moment in meinem Leben war vor etwa einer Woche. Wow… ich weiß gar nicht, ob ich es in Details erklären will, aber es reicht zu sagen, dass ich nicht mehr derselbe war. Dass ich endlich meine Selbstzweifel und Sorgen hinter mir lassen konnte und das Paket, das ich ein Leben lang mit mir herumschleppte. Aber dort musste ich selbst hingelangen, es gab keinen, der mir dabei hätte helfen können. Mir wurde endlich klar, dass ich nicht so streng mit mir selbst umgehen darf und dass ich ein neues Leben anfangen kann, in dem ich mir erlaube, auch mal glücklich zu sein und vor allem ich selbst zu sein. Man muss einfach irgendwann die Zähne zusammenbeißen und sich von seiner Vergangenheit lösen, um unbeschwert leben zu können.
Interview: Anne Catherine Swallow
1 Comment:
Comments are closed.